Auf der Bühne darf man schreien

Hörtrainings Geschichte | Dauer: 07:13

Auf der Bühne darf man schreien

„Und jetzt schreist du einmal ganz laut!“, lautet die Anweisung. Ganz laut schreien, das sagt sich so einfach. Aber es wirklich tun, den ganzen Mut zusammennehmen, in Energie umwandeln und sie mit einem kräftigen Schrei geballter Lautstärke nach außen lassen, das ist dann doch eine Herausforderung. Ich atme tief durch und mache einen Schritt nach vorne. Am anderen Ende des Saals stehen alle und schauen mich mit erwartungsvollen Blicken an. Ich schaue gleich wieder weg, die großen Augen meiner Beobachter machen mich nur noch nervöser. Meine Knie zittern und ich spüre, wie mein Herz in meiner Brust schlägt. Ich frage mich, ob die anderen es hören können, so laut, wie es pumpt. „Du musst dich überwinden, sonst wird das heute nichts mehr mit der Aufführung“, sagt Lena, die Theaterleiterin. Oh nein, das hilft mir nicht, im Gegenteil. Ich kann förmlich spüren, wie sich meine Kehle zuschnürt und keinen Ton mehr herauslässt. Den anderen geht es nicht so, sie sprechen laut, singen, tanzen, haben Spaß auf der Bühne. Ich eigentlich auch. Aber sobald ich meinen Mund aufmache, um etwas zu sagen, kommt nicht mehr als ein Pieps heraus. Naja, gelegentlich auch ein Flüstern. Einmal war es sogar ein ganzer Satz in meiner normalen Stimme. Aber das reicht nicht. „Die Leute müssen dich im ganzen Raum verstehen können“, hat Lena immer wieder zu mir gesagt. Das weiß ich ja auch, aber leichter fällt es mir deshalb nicht.

Ich stehe also auf der Bühne und schweige. Ich höre, wie draußen Kinder Fußball spielen. Ich wäre jetzt auch gerne dort, aber wir haben Theaterprobe, genauer gesagt Generalprobe. Heute Abend ist unser großer Auftritt, auf den wir tagelang hingearbeitet haben. Die anderen kennen das schon, sie waren schon öfter bei den Velden Summer Days dabei, aber ich bin das erste Mal hier. Als ich gehört habe, dass es einen Urlaub gibt, wo sich Familien treffen, die auch Kinder mit Cochlea-Implantaten haben, konnte ich es kaum glauben. Zum Glück brauchte es auch nicht viel Überzeugungsarbeit, um meine Eltern von der Idee zu begeistern. Wochenlang habe ich die Tage gezählt, bis wir endlich hier waren. Und ich habe mir nicht zu viel erwartet: Schönes Wetter, Wanderungen, der wunderbare Wörthersee. Ich habe so viel Spaß. Am besten sind aber die anderen Kinder. Endlich jemand, der mich versteht. Jemand, der auch zuerst seine Audioprozessoren ablegen muss, bevor er ins Wasser springen kann. Ich fühle mich verstanden, auch wenn wir eigentlich gar nicht über unsere CIs sprechen. Meine neue Freundin Klara hat mich dann überzeugt, auch beim Theater-Workshop mitzumachen. Eigentlich wollte ich zuerst nicht, aber ich wollte Zeit mit Klara verbringen und die anderen haben auch alle mitgemacht, also habe ich schlussendlich doch zugestimmt. Jetzt steht Klara am anderen Ende des Saals mit Lena und den anderen Theaterkindern und schaut mich an. Na toll. „Komm schon, du schaffst das!“, ruft sie mir zu. Aber ich schaffe es nicht.

Tränen schießen mir in die Augen, ich wische sie schnell weg. Ich drehe mich um und nehme den Weg schnurstracks über die vier Stufen am Rand der Bühne, die mich zur Tür führen. Einfach weg. Ein paar Schritte weiter höre ich, wie sich hinter mir die Türe nochmals öffnet. Es ist Klara. „Was ist denn los?“, fragt sie besorgt. Ich schüttle den Kopf: „Du weißt doch, wie schwer es mir fällt, auf der Bühne zu reden.“ Sie sieht mich an, besorgt. Beschämt weiche ich ihrem Blick aus. Ich kann schließlich auch nichts tun, um das zu ändern. Aber alle anderen verlassen sich auf mich, verlassen sich darauf, dass heute Abend bei der Aufführung alles klappt. Klara legt ihre Hand auf meine Schulter. „Weißt du was“, sagt sie, „uns fällt da schon was ein. Gehen wir jetzt lieber schwimmen, um uns abzulenken.“ Ich lache, Klara ist eine gute Freundin.

Gesagt, getan. Wir verbringen den ganzen Nachmittag am See. Abwechselnd springen wir ins Wasser und lassen uns dann von der Sonne am Steg trocknen. Fast vergesse ich, was mich heute Abend noch erwartet. Doch als es immer dunkler wird und Mama mir sagt, dass es Zeit für das Abendessen wird, kehrt das mulmige Gefühl in meinem Bauch langsam wieder zurück. Ich versuche es zu verdrängen, während ich langsam Spaghetti auf meine Gabel drehe, aber ich bekomme kaum was runter. Neben mir isst Klara bereits die dritte Portion Pasta, sie scheint sich keine Gedanken wegen der Aufführung zu machen.

Nach dem Essen gehen wir in den Theatersaal, um uns fertig zu machen. Es wird geschminkt, verkleidet, die Requisiten zusammengesucht und Zungenbrecher aufgesagt. Ich fühle mich wie in einer anderen Welt. Die Vorbereitungen vergehen wie im Flug. „Alle hinter die Bühne, der Einlass beginnt gleich.“ Wir drängen uns hinter den schwarzen Samtvorhängen an den Seiten der Bühne und beobachten gespannt, wie sich nach und nach der Saal mit unseren Familien füllt. Mit jeder Person, die den Raum betritt, spüre ich, wie sich meine Kehle ein Stückchen mehr schließt. Angsterfüllt drehe ich mich zu Klara und sage mit zittriger Stimme: „Ich glaube, ich kann das nicht.“ „Klar kannst du das“, erwidert sie mit so viel Sicherheit, dass ich es ihr fast glaube, „Ich verrate dir meinen Trick.“ Sie hat also einen Trick? Erleichterung macht sich in mir breit. Vielleicht schaffe ich es ja doch! „Wenn du auf der Bühne stehst, dann siehst du mich an, blinzelst zwei Mal und atmest einmal ganz tief ein und wieder aus.“ Mit diesen Worten strahlt sie mich an. „Und das soll funktionieren?“, frage ich nach. „Ganz sicher,“ bestätigt Klara. Ich weiß ja nicht so recht. Anschauen, blinzeln, atmen. Das klingt ein bisschen zu einfach, um wahr zu sein. Während ich darüber nachdenke, wird der Saal abgedunkelt und das Publikum verstummt.

Ich nehme Klaras Hand und wir gehen auf die Bühne. Ich spüre das Licht vom Scheinwerfer auf meiner Haut, höre, wie zwei Personen im Publikum flüstern, rieche die Theaterschminke auf meinem Gesicht. Und fühle, wie sich meine Kehle zuschnürt. Panisch schaue ich zu Klara. Sie lächelt mir zu. Ich blinzle zwei Mal, hole tief Luft und atme langsam wieder aus. Mein ganzer Körper entspannt sich, meine Kehle öffnet sich. Es kann losgehen.