Bienen im Bauch

Hörtrainings Geschichte | Dauer: 6:31

Bienen im Bauch

Als Katrin den Schlüssel im Türschloss umdreht, kann sie nicht anders, als einen kleinen Seufzer loszulassen. Ihren 38. Geburtstag hat sie sich so nicht vorgestellt. Zwar war sie nie ein großer Geburtstagsmensch, aber allein zu Hause sitzen, weil die Freunde keine Zeit haben und der Ehemann lange arbeiten muss, geht selbst an Katrin nicht spurlos vorbei. Wenigstens in der Arbeit haben sie gemeinsam auf ihren Geburtstag angestoßen. Und ein Stück von der Torte, die ihre Kollegin Tanja extra gebacken hat, ist auch übriggeblieben. Katrin hat es sich von Tanja sorgfältig einpacken lassen und sich vorgenommen, es heute als Abendessen zu genießen. Man gönnt sich ja sonst nichts. In Gedanken bereits bei der Torte und der Frage, welchen Film sie sich zur Feier des Tages ansehen will, betritt Katrin das Haus. Es ist stockfinster. Auch der Griff zum Lichtschalter ändert daran nichts. Na toll, Stromausfall. Oder die Sicherung ist herausgesprungen. Aber wie, wenn niemand zu Hause ist?

Katrin stellt ihre Tasche ab, tastet sich zur Garderobe und hängt ihren Wintermantel auf einen Haken. Sie schlüpft in ihre Hausschuhe, nimmt die Box mit den Tortenresten aus ihrer Tasche und geht Richtung Kühlschrank. Dabei streckt sie den Arm aus, um sich an den Möbelstücken entlangtasten zu können. Langsam gewöhnen sich ihre Augen an die Dunkelheit. Sie öffnet die Kühlschranktür. Komisch, das Lämpchen brennt und kalt ist es auch. Wieso funktioniert das Licht dann nicht? Im fahlen Schein der Kühlschranklampe wirkt das Haus kälter und größer, als es ist.

Katrin mag die Dunkelheit nicht. Sie gibt ihr ein Gefühl von Bienen im Bauch. Es kribbelt und surrt und am liebsten möchte sie sich in eine Decke wickeln, die Augen schließen und sie erst wieder öffnen, wenn es hell ist. So geht es ihr, seit sie ein kleines Mädchen war. Plötzlich hört Katrin ein Geräusch. Es ist leise und kurz, aber sie ist sich sicher. Irgendetwas hat im ersten Stock ein Geräusch gemacht. Katrin spürt, wie ihr Herz zu klopfen beginnt und langsam ein Bienenschwarm in ihrem Magen entsteht. Vielleicht war es nur Einbildung? Katrin nimmt ihre Cochlea-Implantate von den Ohren und sieht sie an. Alles ist still. Der Gedanke, dass sie nun womöglich ein Geräusch verpassen könnte, lässt den Bienenschwarm in ihrem Magen wachsen. An den Geräten leuchtet kein Lämpchen, auch sonst sehen sie normal aus. Alles scheint zu funktionieren. Schnell legt sie sie wieder an. Im Dunkeln und dann auch noch ohne zu hören - diese kurze Orientierungslosigkeit lässt Katrins Herz noch schneller schlagen. Sie bleibt vor dem Kühlschrank stehen und wartet.

Plötzlich wieder ein Geräusch. Diesmal ist es lauter. Als würde jemand über ihr gehen. Ja, dieses Mal waren es ganz eindeutig Schritte. Katrins Kehle schnürt sich zusammen. Jemand ist in ihrem Haus. Wer kann es sein? Ihre Gedanken rasen: Die Nachbarin. Aber was macht die in ihrem Haus? Ehemann? Der muss lange arbeiten. Hat sonst jemand einen Schlüssel? Nur die beste Freundin, und die hätte doch wohl angerufen, wenn sie vorbeischauen wollte. Es kann nur eine Erklärung geben: Im ersten Stock ist jemand, den sie nicht kennt. Eine fremde Person befindet sich in Katrins Haus. Die Bienen surren und brummen so heftig wie noch nie, kalter Schweiß tritt auf Katrins Stirn. Was tun? Das Haus verlassen? Einfach die Tür hinter sich schließen und so weit wie möglich von hier wegkommen? Oder das Handy aus der Manteltasche holen und den Ehemann anrufen? Oder doch gleich die Polizei? Ein Gedanke jagt den nächsten, als eine Stimme ertönt. Sie flüstert, ist nur ganz leise, aber Katrin kann sie genau hören. Flüstern bedeutet, die Person spricht mit jemandem, ist nicht allein. Ein Schauer läuft über Katrins Rücken. Sie muss wissen, was da los ist. Ohne lange zu überlegen, greift sie die große Pfeffermühle, die neben ihr auf der Küchenablage steht. Langsam geht sie in Richtung Treppen. Sie bemüht sich, keinen Mucks von sich zu geben. Mit angehaltenem Atem und klammen Händen macht sie einen Schritt vor den nächsten. Die Bienen führen währenddessen einen wilden Tanz in Katrins Bauch auf. Sie breiten sich aus, sie kann sie jetzt im ganzen Körper spüren. Vom Haaransatz bis in die Zehenspitzen kribbelt es überall. Gleich ist sie oben.

Katrin nimmt die letzte Stufe, sie hält die Pfeffermühle fest umklammert mit beiden Händen, bereit zum Ausholen. Da geht plötzlich das Licht an. Bevor Katrin sehen kann, was vor ihr passiert, hört sie einen Ruf. Ihre Freunde, die Nachbarin, die Arbeitskollegin Tanja, ihr Ehemann. Umringt von Girlanden und Luftballons johlen sie wie aus einem Hals: „Überraschung! Alles Gute zum Geburtstag!“ Die Bienen lösen sich wie von selbst auf, Katrin lässt die Pfeffermühle fallen. Sie atmet auf und lacht. Ihr Ehemann stürzt auf sie zu und nimmt sie in den Arm: „Alles Gute, mein Schatz, ich hoffe, wir haben dich nicht zu sehr erschreckt.“