Die Prüfung

Der erste Tag in der Schule, nachdem man krank zu Hause war, ist immer stressig. Manche Lehrer überfluten dich mit unzähligen Zetteln und Aufgaben, die du verpasst hast, während du weg warst. Anderen fällt nicht einmal auf, dass du einige Stunden gefehlt hast und nehmen dich trotzdem zur Wiederholung dran. Hat man erst einmal einige Tage zu Hause verbracht, braucht es etwas Zeit, um sich wieder an den Rhythmus und den Alltag im Klassenzimmer zu gewöhnen. Wer Glück hat, hat genau den Unterrichtsstoff verpasst, der unglaublich langweilig und gleichzeitig vollkommen unnötig für den nächsten Test ist. Wer Pech hat, bekommt nicht mit, wie in Mathe ein neues, besonders kompliziertes Thema begonnen wird. Oder er verpasst einen Test. Genau wie Paul.

Ich freue mich, dass Paul wieder in der Schule ist. Eine Woche lang war er nicht da und ohne ihn macht der Schulalltag gleich noch weniger Spaß. Ich weiß außerdem, wie er sich fühlt. Denn, auch wenn ich gerne mal ein paar Tage zu Hause bleibe, ist es doch immer ein komisches Gefühl mitzubekommen, dass die Gewohnheit in der Schule ganz normal ohne einen weitergeht. Und ich weiß, Paul ist lieber mittendrin im Geschehen. Schließlich kann es immer passieren, dass der Turnunterricht nach draußen verlegt wird und die Klasse selbst aussuchen kann, ob sie lieber Basketball oder Fußball spielen möchte. Oder dass es im Schulbuffet plötzlich ein neues Sandwich gibt, das sofort gekostet werden muss. Oder dass irgendjemand in der Klasse etwas so Dummes sagt, dass sogar der Lehrer darüber lachen muss. Diese Dinge möchte schließlich niemand verpassen, auch nicht Paul.

Besonders ärgerlich ist es für ihn, dass er den Biologietest von Professor Egger verpasst hat. Jetzt muss er eine mündliche Prüfung machen und die ist meistens um einiges schwieriger als der Test. Gleich die erste Stunde heute haben wir Biologie. Ich habe schon mit Professor Egger in der Teststunde geredet und versucht ihm klarzumachen, dass Paul mit Fieber im Bett liegt und deshalb unmöglich mitschreiben kann. Es ist immer gut, Professor Egger so etwas gleich zu sagen, denn er neigt dazu, paranoid, wie er nun mal ist, zu denken, dass Schüler absichtlich während seiner Tests zuhause bleiben, weil sie nicht gelernt haben. Wahrscheinlich sind die mündlichen Prüfungen deshalb immer besonders knifflig. Das will ich Paul lieber ersparen, muss er doch sowieso schon so viele Aufgaben nachschreiben.

*Schulglocke*

Professor Egger betritt wie jeden Mittwochmorgen das Klassenzimmer. Er trägt einen alten Blazer und ein Hemd, das einst vermutlich weiß war, aber mittlerweile einen komischen gelblichen Stich angenommen hat. Er schwingt die verstaubte Aktentasche - wer trägt heutzutage überhaupt noch Aktentaschen? - auf den Lehrertisch vorne neben der Tafel. „Setzen,“ ruft er in die Klasse. Er wirkt heute noch griesgrämiger als normalweise. „Der schaut ja glücklich aus heute,“ flüstert Paul mir zu. „Ich vertrete Frau Professor Meyer nächste Stunde, das heißt, wir werden heute eine nette Doppelstunde gemeinsam verbringen,“ verkündet Egger. Ein schweres Seufzen geht durch das Klassenzimmer. „Paul, du kannst deine Prüfung dann gleich nächste Stunde machen.“ Was?! Damit habe ich nicht gerechnet. Und Pauls Gesichtsausdruck verrät mir, dass er das auch nicht hat. Ich schaue ihn an, er sitzt mit aufgerissenen Augen da und öffnet seinen Mund, aber es kommt kein Ton heraus. Wir wissen beide, dass diskutieren nichts gebracht hätte. So beginnt der Tag ja gut. „Hast du dir den Stoff überhaupt angeschaut?“ frage ich vorsichtig nach. Paul schüttelt den Kopf und stützt ihn anschließend auf seine Hände. „Ich wusste, dass ich nicht rechtzeitig zum Test gesund werde. Ich dachte, ich mache mir heute erst einen Termin für die Prüfung aus. Wie soll ich das schaffen?“ Eine Stunde reicht zur Vorbereitung nicht, auch das wissen wir beide. Trotzdem schlägt Paul hastig das Biologiebuch auf und beginnt das Kapitel „Sinnesorgane“ durchzulesen. Das kann doch nicht wahr sein. Irgendwas müssen wir doch tun können. Das dürfen wir dem Egger nicht durchgehen lassen. Da kommt mir eine Idee! „Hast du nicht dieses Gerät, mit dem ich dir direkt in deine Audioprozessoren flüstern kann?“ Paul hebt den Kopf: „Meinen AudioLink? Ja, den hab‘ ich dabei.“

*Schulglocke*

Paul geht langsam zur Tafel. Er dreht sich im Gehen kurz zu mir um. Ich strecke ihm beide Daumen entgegen. Das wird funktionieren, ich glaube daran. Doch ich spüre, wie mein Herz in meiner Brust pocht und meine Hände langsam anfangen zu schwitzen. Was, wenn ich irgendetwas nicht bedacht habe? Egal, jetzt gibt es kein Zurück mehr. „Nun erklär‘ mir einmal, wie die Haut aufgebaut ist“, fordert Professor Egger. Ich sehe, wie Paul schluckt. Ich kenne die Antwort. Jetzt oder nie, es kann losgehen: Ich drehe mich so unauffällig wie möglich weg von der Tafel, zum Glück sitze ich in der letzten Reihe. So leise und gleichzeitig so deutlich wie möglich flüstere ich in das kleine weiße Gerät, das mir Paul in der Pause in die Hand gedrückt hat: „Die Haut ist unser größtes Organ. Sie besteht aus drei Schichten. Der Oberhaut, der Lederhaut und der Unterhaut.“ Währenddessen überschlagen sich die Gedanken in meinem Kopf. Versteht mich Paul? Kann mich der Egger hören? Ich drehe mich zur Tafel. Das Herz schlägt mir jetzt bis zur Brust. Ich schaue Paul an. Er grinst: „Die Haut, Herr Professor Egger, ist unser größtes Organ, der Oberhaut, der Lederhaut und der Unterhaut“….