Ein Winterspaziergang

Hörtrainings Geschichte | Dauer: 6:30

Ein Winterspaziergang

Ich schaue aus dem Fenster und alles ist weiß. Die Äste der Bäume vor meinem Haus biegen sich unter dem Gewicht des Neuschnees. Die Schicht auf meinem Garten ist noch unberührt, wie eine Zuckerglasur auf einem Zitronenkuchen. Die Versuchung hineinzusteigen ringt mit dem Bedürfnis, diese perfekte weiße Glasur für immer so zu behalten. Auch auf den Zaunbrettern hat sich der Schnee abgelegt, er steht so hoch, dass er droht, schon bei einem kleinen Windhauch herunterzufallen. Der Weg vor meinem Haus besteht aus einer hohen Schneedecke mit vereinzelten tiefen Löchern. Jemand muss wohl einen Spaziergang gemacht haben.

Die ganze Nacht hat es wie wild geschneit, doch ich habe nichts davon mitbekommen. Da ich meine Cochlea-Implantate jeden Abend vor dem Zubettgehen herunternehme, schlafe ich tief und fest, ein Schneesturm kann mir da nichts anhaben. Ausgeschlafen wache ich also auf, lege meine Audioprozessoren wieder an, bevor ich meinen ersten Weg Richtung Fenster mache. Mittlerweile fallen nur noch ein paar Flöckchen, von starkem Schneetreiben ist nichts mehr zu sehen. Der Himmel ist klar und blau. Die Landschaft vor mir gleicht einem Gemälde oder einer Postkarte, die man Freunden aus dem Urlaub schickt, um sie neidisch zu machen, weil sie noch im Büro sitzen und man selbst in einem Winterparadies ist.

An einem Tag wie diesem bleibt mir eigentlich nichts anderes übrig, als mich nach einer großen Tasse Kaminzaubertee mit vier warmen Schichten einzukleiden, meine Mütze über die Ohren zu ziehen, meine Finger in Fäustlinge zu verpacken und mir meine Schneeschuhe über ein Paar flauschige Socken zu ziehen. Es ist Zeit für einen Spaziergang.

Ich nehme nichts mit außer meiner Schlüssel und einer Packung Taschentücher. Wenn es draußen kalt ist, beginnt meine Nase oft zu rinnen. Mein Handy lasse ich daheim. Ich möchte nicht gestört werden, die Natur lieber ganz bewusst aufnehmen und genießen. Dabei kann ich Ablenkungen nicht gebrauchen und auch Fotos möchte ich nicht machen. Dieser Spaziergang ist Zeit, die ich mit mir selbst verbringe.

Eingepackt wie ein Weihnachtsgeschenk gehe ich also nach draußen. Für jeden Schritt muss ich meinen Fuß hochheben, um mir einen Weg durch die Schneedecke in meinem Garten zu bahnen. Es gibt nichts Schöneres, als das Geräusch durch Schnee zu stapfen. Ich gehe langsam, höre bei jedem Schritt genau hin. Auf das Knirschen unter meinem Schuh und den dumpfen Laut, der ertönt, wenn ich mein Bein hebe, um den nächsten Schritt zu gehen. Die Luft ist frisch und klar. Jeder Atemzug fühlt sich an wie eine Reinigung für die Lunge. Ich bleibe stehen, schließe meine Augen und lege meinen Kopf in den Nacken. Ich spüre, wie die Schneeflocken auf meinem Gesicht landen und langsam auf meiner Haut schmelzen. Ich höre, wie etwas in dem Baum neben mir raschelt und rieche nichts als Frische.

Aus meinem Garten heraus folge ich den Fußstapfen, die die Person vor mir hinterlassen hat. Die Bäume um mich herum biegen sich mit Schnee. Ich gehe langsam, um nichts aus meiner Umgebung zu verpassen. Rechts neben mir ist ein kleiner Bach. Es knackt, als ich vorsichtig mit dem Fuß die zugefrorene Oberfläche abtaste. Ich bleibe lieber auf meinem sicheren Weg. Nach einiger Zeit komme ich an einer Wiese vorbei. Vier Kinder sind gerade bemüht, einen Schneemann zu bauen. Die unterste Kugel ist schon fertig, sie versuchen den mittleren Teil hochzuheben, doch der Schneeball zerfällt immer wieder. „Vielleicht, wenn wir den Schnee ein bisschen nass machen?“, schlägt ein Bub vor. „Oder wir bauen den Bauch vom Schneemann gleich auf die große Kugel drauf?“, fragt ein Mädchen. Sie sammeln Schnee und formen ihn zu einem Knäuel, währenddessen quasseln sie alle durcheinander und teilen Vorschläge und Ideen, wie der Schneemann am besten gelingen kann.

Ein Stückchen weiter ist eine wilde Schneeballschlacht zwischen einer Familie im Gange. Ein Kind versteckt sich hinter einem Schneeberg, das andere formt unterdessen fleißig neue Bälle und lagert sie. Auf der anderen Seite des Bergs schleichen sich die Eltern an und werfen mit Händen voll Schnee auf ihren Nachwuchs. Die Kinder schreien und lachen. Nun kommen die vorbereiteten Schneebälle zum Einsatz, die Kinder starten den Gegenangriff. Sie werfen einen Ball nach dem anderen und stürzen sich dabei auf ihre Eltern. Irgendwann liegen alle auf dem Boden, über und über bedeckt mit Schnee.

Beim Vorbeigehen muss ich auch lachen, dieses Spektakel verleitet mich dazu, mich selbst in den Schnee zu legen und einen Engel zu machen. Doch langsam beginnt meine Nasenspitze einzufrieren und auch die Finger sehnen sich nach einer heißen Tasse Kaminzaubertee, an der sie sich wieder aufwärmen können. Also mache ich mich auf den Rückweg: Durch den dumpfen Schnee, neben den lachenden Kindern, vorbei am Bach mit der knirschenden Eisdecke, zurück nach Hause von meinem Winterspaziergang.