Erste Worte

Erste Worte sind immer besonders. Nicht immer verständlich, nicht immer tatsächliche Worte. Aber wenn ein Baby zum ersten Mal den Mund öffnet und Laute von sich gibt, die vage an „Mama“ oder „Papa“ erinnern, bleibt kaum ein Auge trocken. Kein Wunder: Erste Worte sind ein Zeichen von Fortschritt, von Entwicklung, von Kommunikation, vom Anfang des Zusammenseins. Wenn wir miteinander sprechen, Gespräche führen, Gedanken austauschen, teilen wir eine Welt, die eigentlich nur in uns drinnen ist. Erste Worte sind der Beginn eines Austausches, der erlaubt, in andere hineinzusehen. Die meisten ersten Worte sprechen Babys mit etwa einem Jahr. Manche lassen sich auch etwas mehr Zeit. So wie die Tochter von Karl-Heinz. Ihre ersten Worte hörte er erst nach zwanzig Jahren.

Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit, das weiß auch Karl-Heinz. Der Grund, wieso so viel Zeit vergehen musste, bis er endlich die Stimme seiner Tochter hören durfte, war jedoch nicht, dass er nicht Teil ihres Lebens war, sie nicht kannte oder kennen wollte. Nein, der Grund war Karl-Heinz‘ Taubheit. Die Folgen eines schweren Unfalls nahmen ihm die Fähigkeit zu hören und zwanzig Jahre lang lebte er deshalb in Stille. Zwar ging sein Leben weiter, er bestritt weiterhin seinen Alltag, hatte Freunde, Familie, verliebte sich, trennte sich, verliebte sich wieder. Hatte gute Tage, schlechte Tage. Tage, an denen er grundlos wütend war. Tage, an denen er vor Glück hätte tanzen können.

Er heiratete und bekam ein Kind, eine Tochter. Sein Leben mit Taubheit ging voran, wenn auch Herausforderungen seinen Weg bestimmten. Er konnte nicht hören, wenn seine Tochter im anderen Zimmer schrie, konnte ihr keine Lieder zum Einschlafen singen, verpasste ihre ersten Worte.

Karl-Heinz wünschte sich eine Lösung und er suchte danach. Er probierte es mit herkömmlichen Hörgeräten, sprach mit Ärzten, Expertinnen, allen, die den Anschein erweckten, ihm helfen zu können. Bis er schließlich, nach zwanzig Jahren ohne Gehör, von Cochlea Implantaten erfuhr. Er wusste, das war die Chance, auf die er gewartet hatte und so wagte er es. Er ließ sich implantieren, zu einer Zeit, als das noch nicht so üblich war wie heute. Er musste vertrauen, konnte sich nicht mit anderen CI-Trägern austauschen, kannte er doch niemanden. Er vertraute also. Die Operation verlief ohne Komplikationen, Karl-Heinz konnte es kaum erwarten, endlich wieder zu hören. Doch er musste noch einige Wochen warten, bis seine Audioprozessoren angepasst wurden und er erfahren würde, ob es funktioniert hatte.

Am Tag der Erstanpassung war er aufgeregt. Eine Mischung aus Neugierde, Vorfreude und Nervosität. Er fuhr allein zu seinem Arzt, er musste die Erfahrung für sich selbst machen. Als er den Audioprozessor anlegte und der Audiologe die Einstellungen vornahm, passierte das Unglaubliche: Er konnte wieder hören. Überglücklich machte er sich auf den Heimweg. Noch klang alles etwas blechern, noch nicht ganz natürlich. Er wusste, dass Übung notwendig war, um wieder so hören zu können wie früher. Und doch, er konnte Laute wahrnehmen, Geräusche hören.

Auf dem Weg nach Hause klopfte sein Herz. Und plötzlich, weil er wusste, er konnte nicht länger warten, blieb er stehen. Kurzerhand fuhr er die Einfahrt zu einer Tankstelle entlang, stieg aus und ging zum Münztelefon, das an der Außenwand befestigt war. Mit zitternden Händen warf er etwas Kleingeld ein und drückte die Ziffern. Ein paar Sekunden vergingen, die sich anfühlten wie eine Ewigkeit. Dann, ein Geräusch, eine Stimme. Es war seine Tochter. Nach zwanzig Jahren hörte Karl-Heinz die Stimme seiner Tochter, für ihn ihre ersten Worte.

Erste Worte sind immer besonders. Nicht immer verständlich, nicht immer tatsächliche Worte. Und auch, wenn sie für Karl-Heinz um Jahre später kamen als für die meisten anderen, so hätte er sich kein schöneres Geschenk wünschen können.