Neue Bekanntschaft

Hörtrainings Geschichte | Dauer: 05:59

Neue Bekanntschaft

Normalerweise macht Paul so etwas ja nicht, aber sein bester Freund Markus hat darauf bestanden, dass er auf dieses Date geht. Paul ist eigentlich zufrieden mit sich selbst und gar nicht wirklich auf der Suche nach einer Partnerin. Doch Markus bestand darauf, dass er sich mit Naomi treffen sollte, schließlich sei sie nett, hübsch und klug und überhaupt das perfekte Gegenstück zu Paul. Also sagte er ja.

Sie treffen sich in einem kleinen Café in der Nähe von Pauls Wohnung, dort gibt es die besten Croissants der Stadt, wie er findet. Bisher hat er nur einmal kurz mit Naomi telefoniert, um sich mit ihr zu verabreden. Sie klang sehr nett am Telefon, aber was kann man schon über eine Person nach einem kurzen Gespräch sagen, bei dem man sich nur hören und nicht sehen konnte? Paul ist immer pünktlich, er mag es nicht, wenn andere auf ihn warten müssen. Also betritt er bereits zehn Minuten vor dem abgemachten Zeitpunkt das Café. Er sieht sich um und sieht eine junge Frau, die allein an einem kleinen Tisch neben dem Fenster sitzt. Naomi. „Sympathisch“, denkt Paul.

Naomi ist ein bisschen aufgeregt, als sie sich auf den Weg zu dem kleinen Café macht, das Paul für ihr erstes Treffen vorgeschlagen hat. Sie war zuvor noch nie dort gewesen, aber die Bilder im Internet sahen vielversprechend aus. Naomi entdeckt gerne neue Lokale, am liebsten welche, die nicht so bekannt sind. Umso größer war die Freude, als Paul ihr am Telefon vorgeschlagen hatte, in sein kleines Lieblingscafé zu gehen. „Die Betreiber sind super nett und man kann richtig bequem dort sitzen,“ hatte er ihr erklärt. Naomi ist gerne pünktlich, es stört sie nicht, auf andere warten zu müssen, das ist ihr lieber, als spät dran zu sein und sich deshalb stressen zu müssen. So ist sie auch diesmal 15 Minuten zu früh und setzt sich an einen Tisch, um auf Paul zu warten. Die Sessel in dem Café sehen alt und gemütlich aus, sie sind alle verschieden. Die Inhaber des Cafés haben sie wohl im Laufe der Zeit aus Antiquitätenläden und Flohmärkten zusammengetragen. Sie sieht sich im Raum um, als ein junger Mann mit Bart und Brille zur Tür hereinkommt. Ihre Augen treffen sich und er schmunzelt. Das muss wohl Paul sein.

Paul zieht sich die Mütze vom Kopf und macht dabei einen Schritt auf den Tisch am Fenster zu. Naomi steht auf. Sie hat lange schwarze Haare, große dunkle Augen und ein breites Lächeln auf den Lippen. „Naomi?“, fragt er nach, „Ich bin Paul, schön dich kennenzulernen!“ Sie umarmen sich zur Begrüßung. Sie riecht gut, ihr Parfum erinnert ihn an einen schönen Sommertag - süß und warm. Er setzt sich und sie bestellen. Paul wählt einen Cappuccino und ein Croissant, Naomi eine heiße Schokolade und ein Pain au Chocolat. „Zu viel Schokolade kann es bei mir nicht geben,“ lacht sie. Paul reibt die Handflächen an seinen Oberschenkeln. Wenn er neue Menschen kennenlernt, ist er zu Beginn immer ein bisschen nervös. Aber etwas an Naomi, an ihrer angenehmen Stimme und ruhigen Art, lässt ihn die Nervosität bald vergessen.

Sie sprechen über Pauls Vorliebe zum Fischen und Naomis Lieblingsbuch, das sie in fünf Ausgaben zu Hause hat. Er berichtet von seinem Urlaub im vergangenen Sommer in Ägypten und Naomi erzählt von dem Gemälde, das sie in einem kleinen Kunstladen gesehen hat und für ihre neue Wohnung kaufen möchte. Wie von selbst ergibt sich ein Gesprächsthema nach dem anderen, es fühlt sich an, als wären sie alte Freunde. Naomi gefällt es, wie aufmerksam Paul zuhört und dass er immer Fragen stellt, wenn sie etwas erzählt. Und Paul mag, wie bildhaft und energetisch Naomi Dinge und Erinnerungen beschreibt.

Während Paul gerade die Geschichte erzählt, wie ein Kamel ihm einmal fast seine Kappe vom Kopf gegessen hat, greift Naomi ihre Haare zusammen und bindet sie zu einem Zopf. Dabei fällt Paul ein kleines Gerät hinter ihrem linken Ohr auf. Naomi sieht seinen Blick und lächelt zögerlich. „Das hilft mir beim Hören,“ erklärt sie. Paul erwidert nichts, er ist nicht sicher, was er dazu sagen soll. „Ich bin auf einem Ohr taub“, fährt Naomi fort. „Taub?“, fragt Paul, „Aber wenn du gar nichts hören kannst auf dieser Seite, wie hilft dann ein Hörgerät?“ „Es ist kein gewöhnliches Hörgerät. Mein Audioprozessor nimmt Geräusche von außen auf und sendet sie an ein Implantat, das unter der Haut sitzt. Von dort werden die Klänge als Schwingungen weitergegeben, bis sie im Gehirn als Töne wahrgenommen werden. Zwar kann ich mit einem Ohr gut hören, aber so weiß ich auch, aus welcher Richtung ein Geräusch kommt und ich muss mich weniger anstrengen, um Gesprächen zu folgen.“ Paul ist fasziniert: „Oh, das heißt ich muss keine besondere Rücksicht nehmen?“ Naomi lacht: „Nein, ich konnte dir bisher gut folgen. Außer wenn du über das Fischen redest, das kann ich nicht so ganz nachvollziehen. Aber das hat nichts mit meinem Cochlea-Implantat zu tun.“ Paul grinst. Er macht sich eine kleine Notiz in seinem Kopf, dass er sich später noch bei Markus melden muss, um ihm zu danken. So eine besondere Bekanntschaft macht er schließlich nicht alle Tage.