Olivenbaum

Wer kann sich sein Schicksal schon aussuchen?
Reiche Prinzen müssen in armen Königshäusern leben, faule Bauern in fleißigen Ländern, Leute, die meinen, sie seien Besseres, unter Leuten, die Besseres sind. Ein Vogel hat mal gesagt, unter Adlern sei er ein Adler und unter Fliegen eine Fliege. Ich glaube, dieser Vogel liebte das Leben!
Und auch die Raupe, die auf einem Olivenbaum wohnte, war glücklich und zufrieden. Sie wusste ja nicht allzu viel von der Welt. Sie hatte ihre Nase, und die erzählte ihr vom Duft der schwarzen Oliven.
Sie hatte ihre Ohren, und die hörten die aufregenden Geschichten des Windes. Das war alles, und glaubt mir, das ist schon recht viel im Leben einer Raupe.

Dem Olivenbaum ging es ähnlich. Er war ein alter Herr und wusste deshalb ein bisschen mehr von den Vorgängen rund um ihn. Nichts schien ihn aufzuregen, er nahm alles hin, wie es kam. Sein Freund Mond berichtete ihm die Neuigkeiten, Klatsch und Tratsch, weil der ja viel herumkam.
Und ab und zu hörte er auch seltsame Stimmen, die immer dann auftauchten, wenn seine Oliven verschwanden. Naja, und damit wäre auch schon alles erzählt.
Deshalb schien es wirklich nicht verwunderlich, dass Olivenbaum verwirrt war, als er eines Tages so ein merkwürdiges, aber durchaus angenehmes Kitzeln auf seinem Stamm spürte. Es war die Raupe. So etwas hatte Olivenbaum noch nie erlebt, er konnte sich jedenfalls nicht daran erinnern. Er versuchte, mit der Raupe ins Gespräch zu kommen. Aber glaubt mir, das war gar nicht so einfach.
„Hallo“, schien ihm eine unverbindliche Anrede zu sein. „Hallo Sie, wer sind Sie denn?“
Erschrocken drehte sich die Raupe nach allen Seiten um, sie wusste nicht, ob sie gemeint war. Warum hatte die Natur oder sonst wer ihr auch keine Augen geschenkt?
„Sollten Sie mich meinen, ich bin eine Raupe. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“
„Ich bin ein Olivenbaum. Sehr angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen!“ Das hatte er irgendwann mal gehört, und jetzt schien ihm der passende Moment gekommen, es auch mal anzubringen. Die Raupe war sehr beeindruckt, kein Wunder, es war ja das erste Mal, dass jemand richtig mit ihr sprach. Und Olivenbaum empfand es auch als äußerst angenehm, dass man seine Klugheit und Gewandtheit zu schätzen wusste.
Es entwickelte sich eine richtige Freundschaft. Man tauschte Erfahrungen untereinander aus, redete über dies und das. Na ja, und es blieb natürlich nicht nur bei einem Gedankenaustausch. Sie sagten sich Zärtlichkeiten und Komplimente. Ob das nun ein: „Nein, wie stark Sie doch sind!“ der Raupe war, wenn der Wind mal wieder betrunken herumkurvte und sie sich gerade noch hinter den Stamm retten konnte, oder ein lustvolles Lachen des Olivenbaumes: „Wie zart Sie immer an meinen Blättern knabbern. Mhm, wie ist das aufregend!“ Nun, so ging das den ganzen Tag hin und her.

Aber noch etwas beschäftigte die beiden in gleichem Maße: Der eine wusste vom anderen nicht, wie der aussah. Sie vermieden dieses Thema. Die Raupe gehörte nicht gerade zu den schönsten Geschöpfen, und so ein Olivenbaum ... Er persönlich hielt sich nicht für besonders attraktiv. So schwiegen beide.

Wahrscheinlich hätte diese Romanze das übliche Ende genommen, kennt ihr ja, wenn man sich nichts mehr zu sagen hat und so, wäre nicht Folgendes passiert: Ein Vogel hatte die Raupe entdeckt und war drauf und dran gewesen, sie zu verspeisen. Nur ein allerletztes Eingreifen Olivenbaums, mit Unterstützung des Windes, verhinderte das Schlimmste: Olivenbaum hieb mit einem Ast auf den Vogel ein, der ohnmächtig zu Boden fiel.
Seit diesem Moment sprach die ganze Umgebung nur noch von der Liebe zwischen der Raupe und dem Olivenbaum. Und, glaubt mir, nicht alle nahmen sie ernst.
Dieses Erlebnis aber machte die beiden mutiger im Zeigen ihrer Gefühle. „Sag, Olivenbaum, wie siehst du eigentlich aus?“ Diese Frage hatte er einerseits befürchtet, andererseits gab sie ihm Gelegenheit, sich auch nach ihrem Aussehen zu erkundigen.
„Raupe, ich weiß es auch nur von Erzählungen, aber man sagt, man sagt (hier stockte er ein bisschen) es geht ein silbernes Licht von meinen Ästen aus. Und meine Blätter bilden eine strahlende Krone.“ Glaubt mir, es war nicht einfach, die Erzählung über sein Aussehen ein bisschen auszuschmücken. Aber es war doch nur, weil er seine Raupe nicht erschrecken wollte und weil er dachte, dass sie sowieso nie erfahren würde, wie er wirklich aussah.
„Aber jetzt, Geliebte, musst du mir auch endlich von deinem Aussehen erzählen.“
Die arme Raupe. Als Freundin eines so wunderschönen Baumes konnte sie ihn nicht mit der Wahrheit enttäuschen.
„Mein Olivenbaum, auch ich weiß es nicht genau, aber ich habe gehört, ich soll ein buntes, farbiges Kleid tragen. Und ich soll Flügel haben wie ein Vogel, und ich könnte, wenn ich wollte, auch fliegen.“ Was sie sich zum Schluss ausgedacht hatte, schien der Raupe selbst sehr gewagt, aber es sollte diesem edlen Baum zeigen, wie sehr sie ihn liebte. Denn fliegen zu können und trotzdem auf seinem Stamm zu bleiben, das beeindruckte sie sogar selbst!
Olivenbaum und Raupe atmeten auf. Keiner hatte des Anderen kleinen Schwindel durchschaut. Sie waren glücklich, erzählten sich weiterhin Geschichten, und der Mond, der Wind und auch die Vögel waren ihre Freunde. Und wenn sich nichts geändert hätte, wäre es noch heute so ...

Aber eines Tages erkrankte die Raupe. Sie rührte sich nicht mehr von der Stelle, sagte kein Wort, ja, sie aß sogar nichts mehr von den Blättern.
Olivenbaum war traurig, wusste nicht, was geschehen war und rief immerzu nach ihr. Er fragte die Freunde, aber auch die verhielten sich eigenartig, gaben nichtssagende Antworten und trösteten ihn. Sie sagten, alles würde in Ordnung kommen. Seine Raupe schliefe, das müsse so sein. Keiner brachte es übers Herz, ihm zu sagen, dass sein Rufen, sein Hoffen umsonst war. Dass er seine Raupe niemals mehr hören und spüren würde.

Es war ein wunderschöner Frühlingstag, als der Wind ganz vorsichtig und zart über die Raupe strich: „Raupe, erschreck dich nicht, Frühling hat dir ein neues Kleid angezogen und hat ... hat deine Füße ein bisschen verwandelt. Und er hat dir noch etwas mitgebracht: Etwas, womit du deinen Olivenbaum wirst sehen können - Augen. Mach sie auf und schau dich um!“
Und die Raupe öffnete ihre Augen. Sie sah die Sonne und den Himmel. Sie sah ihr farbiges Kleid, sah die Freunde und ... ihren Olivenbaum. Wie schön er doch war. Noch viel schöner, als er ihr erzählt hatte. Die Blätter, die sie sah, waren aus Silber, und die Äste bildeten eine Krone, die heller strahlte als ... als alles andere!
„Olivenbaum! Hallo Olivenbaum, ich bin wieder gesund!“
Olivenbaum, glaubte zuerst an einen Scherz, aber dann wusste er, es war die Stimme seiner Raupe. Sie war wieder da, er hatte es gewusst, nein, er hatte es gehofft.
„He sag, was war los mit dir?“

Und Raupe erzählte. Von ihrem neuen Kleid, den Flügeln, den Augen, von ihrem neuen Namen. Glaubt mir, als Olivenbaum das hörte, meinte er, ein Blitz würde in seine Krone schlagen. Nun sah sie seine „silbernen“ Blätter, seine krummen, grauen Äste, die nichts von einem Licht an sich hatten. Wahrscheinlich würde sie keine Minute länger bei ihm bleiben. Und als er spürte, wie seine Raupe ihre Flügel spannte und aufflog, ging ein derartiges Beben der Trauer durch ihn, dass einige Oliven zu Boden fielen - so etwas passiert einem Olivenbaum sonst niemals. “Olivenbaum, ich kann fliegen, fliegen, fliegen!“ Ja, sie konnte wegfliegen, und er musste bleiben. „Flieg nur, Raupe, flieg.“

Raupe flog. Von einem Ast zum anderen. Sie umflog die Krone und küsste den Stamm. Und wenn der Wind ein kleines Spiel mit ihr treiben wollte, da packte sie eines der silbernen Blätter und hielt sich daran fest. Sie verließ niemals die Arme ihres Olivenbaumes.
Für ihn begann ein neues Leben. Ein Leben so schön, wie er es bisher nur geträumt hatte. Er wusste es jetzt, alle wussten es: Was der Mond immer erzählt hatte, war keine erfundene Geschichte: Die Liebe gibt's wirklich! Und weil sich nichts geändert hat, ist es auch noch heute so.
Übrigens, sagt nichts und freut euch, wenn ihr mal einen Schmetterling von silbernen Blättern und leuchtenden Bäumen erzählen hört. Für ihn ... sind sie silbern.