Wellen

So lange habe ich auf diesen Tag gewartet. Als ich mir das Ticket kaufte, hatte ich zwar Hoffnung, aber so ganz konnte ich mir nicht erlauben, Vorfreude aufkommen zu lassen. Zu groß wäre die Enttäuschung gewesen, wäre das Konzert doch abgesagt worden. Schon zu viele meiner Tickets sind im vergangenen Jahr verfallen. Ja, das Geld habe ich zurückbekommen, aber das Erlebnis, die Erinnerungen, die Erfahrungen - das alles ist mir entgangen. Ich hätte nie gedacht, dass es mich so bedrücken kann, ein Jahr lang auf Konzerte zu verzichten. Natürlich musste es sein, große Veranstaltungen wären mit dem Coronavirus einfach zu riskant gewesen. Aber mit jedem Konzert, das abgesagt wurde, verlor ich ein bisschen Hoffnung. Hoffnung auf Normalität, auf Alltag, auf das Ende der Pandemie.

All diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, als ich mich fertig mache. Mein erstes Konzert seit so langer Zeit, da muss man sich doch schön machen. Meine Haare sind gestylt, die Lieblingshose herausgelegt, das Fan-T-Shirt, das ich mir während der Pandemie als Unterstützung für die Band gekauft habe, angezogen. Das Logo der Band hat genau denselben Blauton wie das Cover meines Audioprozessors. So fühlt er sich weniger an wie ein Gerät, das ich zum Hören brauche, sondern mehr wie ein Accessoire, das ich mir extra für dieses Outfit angezogen habe. Während ich meine Tasche packe, spiele ich zum Einstimmen meine Lieblingslieder der Band. Ich kann es kaum erwarten, sie heute live spielen zu hören.

Als wir am Veranstaltungsort ankommen, sind schon viele Menschen da. Es ist noch immer ein bisschen komisch, so viele Leute an einem Ort zu sehen, ohne sich Gedanken über Masken oder Ansteckung machen zu müssen. Ich bin sogar ein bisschen nervös. Was früher das Normalste der Welt für mich war, ist jetzt eine Ausnahme. Wir stehen in einer Schlange und warten darauf, beim Einlass unsere Tickets herzuzeigen. Ich kann schon die Vorband hören, ich kenne sie nicht, aber die Musik gefällt mir. Ein paar Menschen vor mir wippen im Takt, ich bekomme Lust zu tanzen, wenn ich ihnen zusehe. Es geht schnell voran und schon finde ich mich inmitten einer großen Menschentraube, die sich gemeinsam Richtung Bühne bewegt. Bevor es losgeht, hole ich mir noch schnell etwas zu trinken. Dabei gehe ich an einem Stand vorbei, der T-Shirts und andere Fanartikel der Band verkauft. Kurz überlege ich, ob ich vielleicht einen Stoffbeutel mit dem Logo darauf kaufen soll. Er würde gut zu meinen Audioprozessoren passen. Während ich darüber nachdenke, höre ich, wie die Menschenmenge plötzlich schreit und jubelt. Es muss gleich losgehen.

Ich habe es geschafft, mir einen Weg durch das Publikum zu bahnen, sodass ich einen guten Blick auf die Bühne habe. Die Lichter gehen aus und ein lautes Trommeln ertönt. Die Zuseher toben. Ich bin eine von ihnen, schreie mir die Seele aus dem Leib. Die Band stürmt auf die Bühne und das erste Lied beginnt. Es ist eines meiner Favoriten. Ich singe aus voller Kehle mit und tanze so ausgelassen, wie es der enge Platz zulässt. Die Menschen neben mir springen, singen, werfen ihre Hände in die Höhe und lachen. Teil dieser Menge zu sein, fühlt sich richtig an. Alle genießen den Augenblick, keiner macht sich Sorgen oder denkt zu viel nach. Es geht um die Musik, wir nehmen sie mit allen Sinnen auf. Ich kann fühlen, wie sie sich in mir ausbreitet, vom Haaransatz bis in die Zehenspitzen kann ich sie spüren. Ist das Lied laut und schnell, tanzen und springen wir. Ist es langsam und ruhig, heben wir die Arme und schwingen sie im Takt hin und her. Gemeinsam leben wir die Musik. Wie Wellen bewegen wir uns mit ihr.

Als das Konzert zu Ende ist, habe ich längst keine Stimme mehr, so viel habe ich gesungen und so laut geschrien! Ich kaufe mir doch noch schnell den Stoffbeutel, bevor wir die Location verlassen. Auf dem Weg nach Hause fühle ich noch immer, wie meine Wangen glühen. Ich kann die Musik noch immer in mir spüren, die Wellen toben in mir weiter. Ich kann das nächste Konzert kaum erwarten.