Paris

Ich möchte euch eine Geschichte erzählen, nichts Besonderes, so was ganz Normales. Eine Geschichte, die jeder erleben könnte, damit es nicht wieder heißt, klar, du bist Märchendichter, du tust ja den ganzen Tag nicht anderes, als hinter Geschichten herzujagen. Du kannst es dir ja erlauben, mitten unterm Jahr in Piran zu sitzen und über Geschichten nachzudenken. Okay - zu Demonstrationszwecken also etwas ganz Normales:

Ich stehe in einem Bus. Der Bus bringt mich und zirka 30 andere Passagiere vom Flughafenterminal München zu unserer Maschine nach New York. Ich tue, was man so tut, wenn man drei Minuten mit fremden Menschen in einem gemeinsamen Raum verbringt. Ich schau‘ sie mir an. Versuche mir vorzustellen, warum sie ihr Weg gerade heute nach New York führt. Eine Frau sieht so aus, als wäre sie auf einem Businesstrip - ihre ziemlich männliche Aktentasche ist prall gefüllt und sie lässt sie, ziemlich weiblich, lässig baumeln. Männer halten ihre Taschen fest unter ihrem Arm. Der Rest in meiner Umgebung sind Männer. Fast alle in grauen oder schwarzen Anzügen. Da fährt, glaube ich, keiner seine Oma besuchen. Ein paar von ihnen schaue ich in die Augen, ein paar erwidern meinen Blick, einer mit einem Lächeln. Der Bus ist angekommen, die Leute stürmen zu den Gangways, als gelte es, einen besten Platz zu erwischen.

Ende des ersten Teils der Geschichte. Also, gewöhnlicher, trivialer kann eine Geschichte wirklich nicht sein. Nichts passiert. GAR NICHTS. Kein Unfall. Kein Ohnmachtsanfall, die eine Frau hat mir nicht heimlich zugeflüstert, wir sollten uns dann in einer halben Stunde hinten, rechts von der Toilette treffen. Typisch dumme Männerfantasien, das gäbe aber eine gute Geschichte, die könnte man ausbauen, weibliche Schriftsteller tun das ja jetzt wie verrückt, die männlichen hinken da erstaunlicherweise ziemlich hinten nach. Aber sorry, so war es nicht. Es geschah echt nichts, was soll ich denn tun? Das ist gar kein Geschichte, sondern taugt höchstens etwas für einen Anfang, Auftakt für irgendetwas, was da noch kommen könnte.

Versuchen wir es also zum zweiten Teil der Geschichte, der genauso atemraubend fortsetzt, wie der erste geendet hat:

Acht Monate später. Es ist März und Astrid, meine Frau, und ich sind in Paris. Als wir am Morgen aufbrechen, schlägt Astrid einen Spaziergang zu diversen Museen, dann noch in den Parc des Luxembourg und dies und das vor. Ich bin normalerweise sehr froh und dankbar, wenn Astrid, sind wir privat unterwegs wie dieses Mal, den Weg vorgibt und sich Gedanken macht. Aber dieses Mal sage ich: „Weißt du was? Wir sollten mal dorthin, wo wir mit Sicherheit noch nie waren. Fahren wir doch mit der Metro irgendwohin, steigen irgendwo aus! Und lassen wir uns ganz einfach überraschen!“
Astrid sagt „Lustig, das machen wir!“ Wir schauen also weder auf den Metro-Plan, noch auf die Nummer des Zuges, der gerade einfährt, wir steigen ein, es geht los. Plötzlich sage ich: „Lass uns bei der 13. Station aussteigen!“ Wisst ihr, 13 ist unsere Glückszahl. Es ist unglaublich, was wir mit ihr schon erlebt haben. Aber davon erzähle ich euch das nächste Mal, ok?...

Die elfte, die zwölfte, die 13., wir steigen aus. Wie in einer Themenparkattraktion, wo man voller Spannung, was einen nun erwartet, den nächsten Raum betritt, steigen wir aus - ich kann mich nicht mehr erinnern, wie die Station geheißen hat, ist auch völlig unwichtig.
Wir kommen also die Treppe hoch, sehen uns kurz um und fragen einander, in welche Richtung wir gehen sollen. Klar: Astrid zeigt nach links, ich nach rechts. Das ist typisch für uns, vielleicht sollte ich mal ein Buch über meine Ehe schreiben. Das klingt jetzt nach einem drittklassigen Drehbuch, aber ich kann nichts dafür, so geschah es: Wir können uns nicht einigen und da keiner nachgeben will (ich sagte ja schon, vielleicht sollte ich wirklich mal was darüber schreiben...) werfen wir also tatsächlich eine Münze. Wir gehen nach rechts. Es ist ein hübsches Viertel mit hübschen Häusern und hübschen Menschen. Gott sei Dank - keine Geschäfte. Ein paar nette Restaurants, Bars, wir flanieren und sind glücklich. Okay. Gut. Und? Wo ist die bitte Geschichte?!

Außer unappetitlichen Männerfantasien und unendlicher Langeweile gab’s bisher gar nichts.
Wir flanieren und sind glücklich. Wir biegen in eine kleine Seitengasse. Es herrscht normaler Personenverkehr. Ungefähr in der Mitte dieser Gasse ist ein Hotel - sein Schild ragt auf die Gasse, sodass man es schon von Weitem sehen kann. In dem Augenblick, als wir am Eingangstor vorbeikommen, tritt ein Mann aus dem Hotel auf die Straße, augenscheinlich zu einem wartenden Taxi. Um nicht zusammenzukrachen, müssen wir alle drei ruckartig stehen bleiben. Pardon, Pardon, Pardon. Ja? Und? War der Kerl vielleicht George Clooney? Fiel ihm vor Schreck eine Smith & Weston aus der Tasche, ein Schuss löste sich und traf...? Fiel ein Kranich tot vom Himmel?

Wir sind ungefähr zehn Schritte gegangen, haben nach der kurzen Unterbrechung unser Gespräch weitergeführt, darüber, wo wir was essen werden. Plötzlich schreie ich auf, reiße mich von Astrid los, stürme wie ein Verrückter die zehn Schritte zurück, halte das Taxi auf - wie im Film: auf die Motorhaube greifend, um das Fahrzeug zu stoppen, in das der Mann, mit dem wir vor Augenblicken fast zusammengestoßen wären, gerade eben eingestiegen war, ich klopfe an sein Fenster, er öffnet es und ich schaue ihn durchdringend an. Ich spüre, dass er völlig verunsichert ist, weil ich doch der Mann bin, mit dem er vor wenigen Augenblicken fast zusammengestoßen wäre. Was will ich von ihm? Seine Augen ziehen sich zu schmalen Sehschlitzen zusammen, als erwarte er, gleich einen Schlag parieren zu müssen. „Ja“, sage ich, „Sie sind es wirklich! Sie sind im Juni des Vorjahres von München nach New York geflogen, oder?“ Der Mann starrt mich entgeistert an. Er überlegt. Und nickt mit dem Kopf - ein „Ja“ bringt sein Mund im Moment nicht zustande.
„Sie standen neben mir im Autobus, der uns zum Flugzeug brachte. Unsere Blicke hatten sich getroffen und wir haben uns kurz angelächelt!“ Der Mann starrt immer noch. Aber jetzt ist es eher ein wütendes Starren, dass ich ihm seine Zeit stehle für eine solche Lächerlichkeit. „Ja, und?“ sagt er, gibt dem Fahrer einen Klaps auf die Schulter, befiehlt „Allez!“ und sie brausen davon. Ich stehe da. Astrid ist inzwischen zurückgekommen, fragt, was denn los sei. Ich erzähle es ihr. Ich bin völlig aufgelöst. Nicht nur dieses großartigen Momentes wegen, sondern auch wegen der Reaktion dieses Arschloches. Entschuldigung, Entschuldigung … Aber genau das sagte ich damals. Wir stehen noch da, Astrid hat ihre Arme um meine Schultern gelegt, um mich zu trösten. Da bleibt mit quietschenden Reifen ein Auto neben uns stehen. Das Taxi. Der Mann, der von München nach New York geflogen war, springt heraus, kommt auf mich zu, er hat Tränen in den Augen, umarmt mich, sagt „Danke“, springt in den Wagen und sie fahren davon.

Wir halten noch kurz inne, als wäre ein Kranich vom Himmel gefallen, als wäre eine weiße Feder von einem Fenster des Hotels langsam auf den Boden geschwebt, dann gehen wir weiter, lachen, überlegen, wo wir was essen werden. Und zwischendurch denke ich mir, dass ich diese Geschichte irgendwann einmal aufschreiben sollte - um sie heute dir zu erzählen.